Clara ist fünf Jahre und steht allein am Ufer. Fasziniert starrt sie auf den Schwan, der drei Meter entfernt im Wasser gründelt. Auf Zehenspitzen schleicht sie auf ihn zu, weil sie über die glatten Federn streichen will. Schon ist er in ihrer Reichweite.
Plötzlich reckt der Schwan den Hals, zischt und zwickt blitzschnell in Claras nackte Wade. Ein stechender Schmerz durchzuckt sie. Tränen schießen in ihre Augen, sie dreht sich um und läuft weg.
Wie Vergangenheit prägt
Seitdem hat Clara Angst vor Wasservögeln – nicht nur vor Schwänen, sondern auch vor Gänsen, Möwen und sogar den friedlichen Enten.
Jahrzehnte vergehen. Clara lebt in der Nähe eines Sees, den sie liebt. Oft schaut sie zu, wie sich die untergehende Sonne orangerot in den Wellen spiegelt. An warmen Sommerabenden würde sie sich gern eine Weile ans Ufer setzen. Auf das Plätschern lauschen, dabei träumen oder ein Buch lesen.
Wenn da nicht die Enten wären. Claras Freunde lächeln über sie. Sie weiß, dass die Schnattervögel harmlos sind, dennoch fürchtet sie sich.
Eines Tages trifft sie am See eine Frau mit Lachfältchen – Charlotte. Die beiden kommen ins Gespräch. Ehe sie es sich versieht, erzählt Clara von ihrem Kindheits-Trauma mit dem Schwan.
„Gern möchte ich nicht mehr daran denken, doch das kann ich nicht“, sagt sie. Die Erfahrung hat sich in ihr Gehirn und ihren Körper eingebrannt.
„Wie wäre es für Dich, wenn Du Deine persönliche Vergangenheit ändern könntest?“ fragt Charlotte.
„Das wäre fantastisch, aber wie soll das gehen?“ antwortet Clara.
Selbstführung: Vergangenheit ändern – geht das?
Charlotte lächelt: „Deine Vergangenheit ist nicht in Stein gemeißelt, sie lebt nur in Deinem Kopf. Jedes Mal, wenn Du Dich an sie erinnerst, konstruierst Du sie neu. Sie ist wie ein Film, den wir uns wieder und wieder erzählen und ihn so immer tiefer in unserem Hirn verankern.“
Clara nickt nachdenklich. Wenn sie an den Schwan denkt, spürt sie heute noch, wie sich ihre Nackenhaare sträuben. Sie hört das Zischen und sieht, wie der lange Hals auf sie zuschießt. Dann spürt sie erneut die Panik und den Schmerz in ihrer Wade.
„Wenn Du möchtest, kannst Du das Drehbuch für Deinen Film umschreiben“, meint Charlotte. „Du bist nicht mehr das kleine Mädchen von fünf Jahren.“
Als Clara wieder zu Hause ist, geht ihr das Gespräch nicht aus dem Sinn. Es stimmt – als Erwachsene sieht sie heute Handlungsmöglichkeiten, die sie als Kind nicht hatte.
Sie könnte rechtzeitig weglaufen, Abstand halten oder sich mit einem Knüppel verteidigen. Clara entscheidet sich dafür, den Schwan aus sicherem Abstand zu beobachten. Über Wochen hinweg spielt sie das Erlebnis mit dem geänderten Drehbuch immer wieder mental durch. Solange, bis es sich für sie stimmig anfühlt.
Dabei spürt sie, wie sich ihre Panik in leichte Beunruhigung wandelt. Wie das Selbstvertrauen wächst, mit Wasservögeln klarzukommen.
Vielleicht geht Clara am Wochenende Enten füttern. Und eines Tages bleibt sie vielleicht sogar gelassen am Seeufer stehen, wenn ein Schwan in ihrer Nähe seine Federn putzt.
Selbstführung: Es ist nie zu spät, eine positive Vergangenheit zu haben
Die Überschrift klingt paradox, oder? In einem der nächsten Blogartikel greifen wir das Thema noch einmal auf. Wozu könnte es gut sein, die eigene Vergangenheit vor allem positiv zu sehen? Wir begegnen dem Zeit-Paradox von Zimbardo [1] und einer Reflexionsübung zur Rekonstruktion einer positiven Vergangenheit.
Doch schon heute lade ich Dich ein, über folgende Frage nachzudenken:
Welches unangenehme oder schmerzliche Erlebnis aus Deiner Vergangenheit möchtest Du gern in eine Quelle der Kraft umdeuten?
Wenn Du magst, teile Deine Gedanken zu Claras Geschichte mit uns in einem Kommentar.
Was ist, wenn wir Schmerzen anderer verursacht haben? Ich kann das nicht ändern, weil es die Vergangenheit anderer betrifft. Sich selbst Fehler zu verzeihen fällt nicht leicht und vielleicht sollte es das auch nicht. Aber es hindert mich daran, in die Zukunft zu schauen und darauf zu bauen, dass ich trotzdem liebenswert bin.
Liebe Alina,
vielen Dank für Deine Offenheit.
Claras Geschichte bezog sich auf ein Ereignis, das sie zwar im Alltag bei bestimmten Dingen bremst, doch ihre Selbstliebe nicht beeinträchtigt.
Deine Worte klingen, als ob Dein Erlebnis in der Vergangenheit Dir heute noch schwer auf der Seele liegt. Mit professioneller Unterstützung durch einen Psychologen oder Psychotherapeuten lassen sich auch solche Erlebnisse aufarbeiten. Da ich Dich nicht kenne – nur Du kannst Dir die Frage beantworten, ob das ein möglicher Weg für Dich wäre. Selbsthilfe oder Coaching sind hier vielleicht überfordert.
Ich wünsche Dir alles Gute. Herzlichst
Christine
Hallo Christine,
Endlich kann ich auch mal bei dir kommentieren 😉
Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Selbst wenn wir die „Fakten“ nicht mehr ändern können, können wir doch unsere Bewertung über das Ereignis in einem anderen Rahmen betrachten.
Für mich sind mittlerweile alle Rückschläge versteckte Geschenke zum Wachsen.
Liebe Grüße David
Hallo David,
Dein Kommentar freut mich sehr.
Stimmt – unsere Bewertung können wir im Nachhinein reframen. Als ob wir das Erinnerungs-Bild des Ereignisses „übermalen“.
„Rückschläge als versteckte Geschenke zum Wachsen“ – das gefällt mir.
Liebe Grüße
Christine