Als sich Anton nach seinem Jahresend-Urlaub wieder an seinen Schreibtisch setzt, wirbeln Schneeflocken vor den Fenstern des Bürohochhauses.
Gerade ist er durch die Büros geschlendert, hat Kollegen begrüßt und etwas geschwatzt. Nun starrt er am Laptop auf den Outlook-Kalender des neuen Jahres.
Innerlich stöhnt er: Wo ist nur die Zeit geblieben? Je älter Anton wird, desto schneller scheint die Zeit zu rasen.
Das vergangene Jahr ist wie im Fluge vergangen. Der Urlaub auf Lanzarote im Mai, die Projektabschlussfeier im September scheinen schon ewig her zu sein. An viel mehr erinnert er sich nicht.
Der Planer aus dem Vorjahr liegt noch auf dem Schreibtisch. Als Anton ihn durchblättert, findet er wenig Spannendes. Dafür jede Menge Routine-Ereignisse, die er schon fast vergessen hat. Termine für Pläne, Berichte und Präsentationen und vor allem – Meetings.
Und heute? Ein Abteilungsmeeting und eine Projektrunde stehen an – damit ist bereits die Hälfte seiner Arbeitszeit ausgeplant. Außerdem muss er ein Arbeitszeugnis für einen Mitarbeiter entwerfen. Anton gähnt und öffnet die erste E-Mail. Der Tag tröpfelt zäh.
Als Anton kurz vor sechs die Aktentasche unter den Arm klemmt, hat er einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich. Und doch wird auch dieser Tag in Antons Rückschau schrumpfen.
Wie kommt das?
Das Mysterium der Zeit
Die Zeit hat viele Gesichter. Oft denken wir nicht über sie nach, doch sie birgt viele Rätsel. Sie beschäftigt Physiker, Biologen, Psychologen, Zeitmanagement-Experten und Schriftsteller.
Als Coach und Ex-Physikerin lade ich Dich ein, mit mir einen kurzen Blick auf die Zeit werfen – mit den Augen der Physik und der Psychologie.
Die Zeit in der Physik
Wie messen wir eigentlich die Zeit?
Früher hatte jedes Dorf seine eigene Ortszeit, die an der Kirchturmuhr abgelesen wurde. Gestellt wurden diese Uhren nach Sonnenstand – stand die Sonne über der Kirche im Zenit, war es zwölf Uhr. Je weiter der Ort im Westen lag, desto später war das. Bis in die Zeit der Postkutschen waren die vielen unterschiedlichen Ortszeiten kein Problem.
Das änderte sich während der Industrialisierung. Als die ersten Eisenbahnen über weite Strecken dampften, verwirrten die unterschiedlichen Zeiten der Bahnhöfe die Menschen. Stell Dir vor, Du fährst mit der Bahn von Berlin nach Köln und die Hinfahrt ist scheinbar um etliches kürzer als die Rückfahrt. Unklare Zeitangaben verursachten Zugunfälle.
Als erstes Land führte die Schweiz 1848 eine landesweite Normzeit ein. Deutschland folgte 1893. [1]
1884 wurden in Washington die heute noch gültigen Zeitzonen der Erde vereinbart.
Wie konnte man die Uhren synchronisieren – mit Dampfstößen, Lichtimpulsen oder Telegraphie? Von den vielen Ideen hat sich heute die Funkuhr durchgesetzt.
Albert Einstein begegnete in seinem Züricher Patentbüro zahlreichen Patentanträgen zur Zeitsynchronisation. Sie regten ihn an, über das Problem der Gleichzeitigkeit nachzudenken. Anfang des 20 Jahrhunderts begründete er die spezielle Relativitätstheorie, nach der Zeitdauern und Längen vom Bewegungszustand des Betrachters abhängig sind.
So sehen Physiker und Ingenieure die Zeit. Doch: Wie nehmen wir die Zeit wahr?
Die Zeit in der Psychologie
Paradox: Wir nehmen die Zeit weitgehend unabhängig von der Uhrzeit wahr.
Im Gegensatz zu unseren Sinnesorganen für Licht, Schall und Berührungen haben wir kein Sinnesorgan für Zeit. Weil jeder Mensch seine Zeit selbst konstruiert, ist sie höchst subjektiv und variabel. Unsere Zeit hängt davon ab, wie wir emotional bewerten, was gerade passiert.
Psychologen unterscheiden zwischen aktuellem Zeiterleben und Zeiterleben in der Rückschau. Was sie herausgefunden haben, finde ich faszinierend. [2]
Aktuelles Zeiterleben
Kennst Du das? Langweilige oder unangenehme Situationen scheinen sich zu dehnen. Ganz gleich, ob wir im Schneeregen auf den Bus warten oder uns in einem unproduktiven Meeting langweilen.
Dagegen vergehen manchmal die Stunden wie im Fluge, ohne dass wir es bemerken. Wie zum Beispiel beim Gespräch mit einem Menschen, der uns interessiert.
Oder wenn wir in einer anregenden Tätigkeit aufgehen wie beim Lesen, Musikhören oder einer Arbeitsaufgabe, die uns fordert und erfüllt. Der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi nennt diesen Zustand Flow. [3]
In welchen Situationen erlebst Du diese Zeitvergessenheit?
Retrospektives Zeiterleben
Spannend: In der Rückschau empfinden wir die Zeit genau entgegengesetzt zu unserem Zeiterleben im Augenblick.
Je langwieriger sich die Augenblicke hinziehen, desto schneller scheinen in der Rückschau die Jahre vergangen zu sein.
Kein Wunder – wenn wenig Bemerkenswertes passiert ist, gibt es nicht viel zu erinnern.
Wie schnell sind für Dich die letzten zehn Jahre vergangen? Die meisten Menschen antworten spontan, dass sich diese Zeitspanne schneller anfühlt als die ersten zehn Jahre der Kindheit oder der Adoleszenz.
Psychologen erklären das mit der Anzahl der neuen Reize. Während Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sehr oft etwas zum ersten Mal erleben, haben Lebenserfahrene viele eingefahrene Abläufe. So erleben sie in der Regel weniger neue Eindrücke als früher.
Die Annahme, dass mit zunehmendem Alter die Jahre immer mehr zu rasen scheinen, wird durch eine neue Studie gestützt. [4]
Diese gefühlte Beschleunigung ist jedoch auch beim Älterwerden individuell stark unterschiedlich.
Wer für mehr „erste Male“ sorgt, kann das gefühlte Rasen der Zeit abbremsen.
Auch wer seine Emotionen gut regulieren kann, hat im Rückblick mehr von seinen Lebensjahren. [5]
Was Du tun kannst, damit Deine Tage kurzweilig sind und Dein Leben in der Rückschau langsamer vergeht
Bist Du vielleicht wie Anton manchmal des eintönigen Alltags überdrüssig? Hast Du Lust, Deine Gegenwart wieder etwas spannender zu gestalten? Mit der „Nebenwirkung“, dass Dir Dein Leben Dir im Rückblick reicher und länger erscheint?
Hier drei Anregungen, die Du sicher aus anderem Kontext kennst:
1. Lerne (wieder) etwas Neues, das Dich fordert und Dir Spaß macht.
2. Probiere etwas praktisch aus, das Du bisher noch nicht gemacht hast.
3. Organisiere Dir Erlebnisse mit tiefen Emotionen, die Dich bewegen.
Welche der drei Ideen spricht Dich spontan an? Welche persönlichen Erfahrungen hast Du zum Thema „subjektive Zeitwahrnehmung“?
Hab eine gute Zeit. Ich freue mich, von Dir zu hören.
Christine
Quellen:
[1] Die Geschichte der Zeit
[2] Wie unser Gefühl der Zeit entsteht
[3] Mihaly Csíkszentmihályi. Flow: Das Geheimnis des Glücks
[4] Age effects in the perception of time
[5] Time Perspective and Emotion Regulation as Predictors of Age-Related Subjective Passage of Time
Ich diskutiere mal mit (meine wöchentliche Dosis Selbstreflektion). Mein Eindruck ist, dass es eine innere Uhr gibt und wenn die innere mit der äusseren harmoniert und ich, wie mein Vorredner so schön gesagt hat, meinen Flow geniessen kann, ohne meine Pflicht vernachlässigt zu haben, dann bin ich besonders zufrieden mit meinem Tag. Das 1., 2., 3. von Christine mache ich schon, wobei 3. am schwierigsten für mich ist: besonders dann, wenn auch Ängste und negative Emotionen mit im Spiel sind, aber auch das gehört für mich dazu: sich Zeit nehmen, diese Situationen, die uns Angst machen, bewusst zu erleben und die Emotionen darin anzusehen, statt ihnen auszuweichen. Dann gibt es machmal auch positive Überraschungen und eben diese tiefen Emotionen.
„Meine wöchentliche Dosis Selbstreflexion“ klingt interessant. Ich kann mir gut vorstellen, dass Du zufrieden mit Deinem Tag bist, wenn Deine innere mit der äußeren Uhr harmoniert und Du Flow-Momente und Pflichtaufgaben unter einen Hut gebracht hast. Schön, dass Du die drei genannten Ideen schon lebst. Und ja – bei den „Erlebnissen mit tiefen Emotionen“ kann durchaus auch Angst auftauchen. Ich weiß nicht, woran Du dabei denkst – mir fällt spontan eine Kajaktour im Wildwasser ein, vor der ich beinahe gekniffen hätte. Heute bin ich froh, dass ich sie erlebt habe – schaurig schön.
Sehr schön!
Ich persönlich glaube ja nicht daran, dass es eine objektive Zeit überhaupt gibt. Es ist lediglich eine subjektive Wahr-Nehmung. Und egal, wie genau wir versuchen sie messen – sie entzieht sich letztendlich unserer Beeinflussung. Wir können sie – wenn wir wollen – zur Kenntnis nehmen – wir können sie aber auch ignorieren. Und das erscheint mir dann die bessere Alternative zu sein: den von Csíkszentmihályi beschriebenen Flow zu genießen, unter dessen Einfluss wir unseren wirklichen Ideen und Sehnsüchten intensiv und selbstvergessen nachgehen können.
Freut mich! Ja, das sehe ich auch so – wir nehmen die Zeit subjektiv wahr. Individuell unterschiedlich und dann auch noch kontextabhängig. Die Zeit zu ignorieren und einfach selbstvergessen den Flow zu genießen ist auch ein interessanter Ansatz. Vielen Dank für diese Gedanken.