Wenn Du eine erfahrene Führungskraft oder Fachexperte bist, kennst Du das. Der Wandel bricht oft wellenartig über Unternehmen herein. Spätestens wenn die Geschäftszahlen sich dem roten Bereich nähern, startet ein Veränderungsprojekt. Leider beschränkt sich die Veränderung meist auf dreierlei:
- neue Business-Visionen
- Umstrukturierungen
- Prozessveränderungen
Die Unternehmenskultur bleibt außen vor und damit auch der Stellenwert von Wertschätzung im Unternehmen. In schwunglosen Belegschaftsversammlungen wird die Veränderung top-down vermittelt.
Martina Baehr hat zur Blogparade „Wandel durch Wertschätzung“ eingeladen. Weil ich das Thema spannend finde, beteilige ich mich gern mit diesem Beitrag.

1. Wertschätzung in der Wirtschaft und Herr H.
Über 20 Jahre habe ich verschiedene Teams in Technikkonzernen geleitet – unter anderem in Software Engineering, Industrialisierung, Validierung. In dieser Zeit erlebte ich etwa ein Dutzend Veränderungsprojekte. Im Nachhinein betrachtet, hatte keines durchschlagenden Erfolg.
Wandel ist mir also seit langem vertraut, doch über den Begriff „Wertschätzung“ stolperte ich erstmals 2011. In meiner berufsbegleitenden Coaching-Ausbildung ging mir ein Licht über den geringen Stellenwert auf, den Wertschätzung in der Wirtschaft hat.
Dennoch gab es einige Vorgesetzte, Mitarbeiter und Kollegen, von denen ich Wertschätzung erfahren habe. Auch mir war wichtig, als Teamleiterin anderen Anerkennung, Unterstützung und ehrliches Feedback zu geben.
Ein Vorgesetzter hat mich besonders inspiriert. Es war an einem stürmischen Frühlingsabend während eines „Passport to People Management“ Seminars für Teamleiter. Herr H., der neue deutsche CEO unseres Unternehmens, kam trotz Wind und Wetters mit seinem Motorrad zum Kaminabend. Wir hatten eine Menge Fragen. Was mich besonders beeindruckte – er sagte offen, auf welche Herausforderungen er noch keine Antwort hatte. Vor allem hörte er zu und fragte nach. Er wollte wissen, was uns beschäftigte. Wie das Unternehmen produktiver und menschlicher werden könnte. Welche Vorschläge wir hätten und was wir als Teamleiter selbst beitragen könnten. Ich fühlte mich gehört und gesehen – ein tolles Gefühl.
2. Warum Wertschätzung kein „Sahnehäubchen“ ist
Hat Wertschätzung überhaupt etwas in der Wirtschaft zu suchen? Ja, sagen die einen. Mitarbeiter, die anerkannt werden, kommen gern zur Arbeit und setzen sich für die Ziele der Firma ein. Wertschätzung wirkt nicht nur motivierend, sondern erhöht auch das Wohlbefinden der Beschäftigten. Langsam scheint sich der Begriff „Wertschätzungskultur“ zumindest in Büchern zu etablieren, wie ein Google Ngram zeigt.
Nein, sagen die anderen. Die Wirtschaft ist doch kein Ponyhof! Was zählt, sind Umsatz und Gewinn. Doch wie sehen Veränderungen aus, die zu mehr Wertschöpfung führen? Ich erinnere mich an die beiden Schlagworte, die unser letztes Veränderungsprojektes bestimmten. Empowerment der Führungskräfte, Commitment der Mitarbeiter sollten den Wandel befördern. Wertschätzung und Empowerment für die Mitarbeiter? Fehlanzeige.
Nein, Wertschätzung ist kein Sahnehäubchen, sondern ein wesentliches Bedürfnis jedes Menschen, anerkannt zu werden. Nicht nur im Privatleben, sondern gerade auch im Beruf, wo wir viel Lebenszeit verbringen. Mitarbeiter möchten nach ihrer Meinung gefragt werden und Feedback bekommen. Sie wollen als Mensch wahrgenommen werden, nicht als austauschbares Rädchen.
Die Gallup-Studie stellt fest, dass 2015 immer noch 84 % der Mitarbeiter deutscher Unternehmen nur eine geringe oder gar keine emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen haben. Das resultiert vor allem aus Wertschätzungs-Defiziten in der Personalführung.
3. Wertschätzung und Wandel
Wertschätzung in der Wirtschaft ist nicht erst seit heute Mangelware. Auch wenn das Individuum damit unzufrieden war – die Fließbandfertigung lief dennoch wie am Schnürchen. Doch wie wirkt sich das Wertschätzungs-Defizit heute aus, in Zeiten beschleunigten Wandels?
In der digitalen Wissensgesellschaft wachsen neue Technologien, globale Vernetzung und Komplexität exponentiell. Wirtschaftliche und ökologische Randbedingungen verschärfen sich. Damit steigen die Anforderungen an die Menschen, von denen der Unternehmenserfolg abhängt. Effiziente Pflichterfüllung in standardisierten Prozessen reicht längst nicht mehr aus. Die Mitarbeiter sollen kreativ Probleme lösen, soziale Kompetenzen einbringen, in temporären Projektteams jenseits von Hierarchien kooperieren.
All das erfordert von Führungskräften wie von Mitarbeitern zweierlei:
- eine hohe Unsicherheits-Toleranz und
- die ständige Bereitschaft, Neues zu lernen und zu erproben.
Weil schneller Wandel unser Grundbedürfnis nach Sicherheit gefährdet, wird Wertschätzung immer wichtiger. Wertschätzung gibt dem einzelnen in unsicheren Zeiten emotionalen Halt und fördert sein Engagement.
Startet ein konkretes Veränderungsprojekt, steigt die latente Verunsicherung. Mitarbeiter mit geringer emotionaler Bindung zum Unternehmen sind dann wenig bereit, sich dem Wandel zu öffnen und ihn mitzugestalten. Selbst wenn sie wollten – sie werden selten gefragt. Dienst nach Vorschrift nimmt zu; im Extremfall finden Mitarbeiter Alternativen außerhalb ihres Unternehmens.
Was können Führungskräfte tun, um die emotionale Bindung ihrer Mitarbeiter an das Unternehmen durch mehr Wertschätzung zu fördern?
4. Wertschätzung und kooperative Führung
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Wertschätzung auszudrücken. Alexandra Cordes-Guth und Josef Beil nennen sie die 6 Sprachen der Wertschätzung.
Zwei davon finde ich besonders wirkungsvoll:
- Zuhören und echten Dialog
- Vertrauen und Zutrauen erweisen („Empowerment“)
Wie war es für Dich, als Dir Dein Chef oder Kollege das letzte Mal offen zugehört hat? Als er wirklich wissen wollte, was Dir wichtig ist und welche Ideen Du hast? Wie war es für Dich, als Dir Dein Chef eine Aufgabe jenseits der Routine übertragen hat, an der Du wachsen konntest? Und die entsprechenden Entscheidungskompetenz gleich dazu?
Falls Du Führungskraft bist – was hast Du das letzte Mal erlebt, als Du einem Mitarbeiter wirklich zugehört hast? Als Du Dich voll auf seinen Blickwinkel eingestimmt hast, ohne während des Zuhörens in Gedanken bereits Deine Interpretationen und Lösungen zu formulieren?
Das ist nicht leicht, ich weiß. Doch es könnte Erstaunliches passieren – gerade in Veränderungsprozessen. Oft stehen dann die Interessen der Aktionäre, des Top Managements und der Kunden im Mittelpunkt.
Doch nimmt ein Unternehmen auch die Werte, Bedürfnisse und Ideen der Mitarbeiter ernst, wird ein kooperativer Veränderungsprozess möglich. Dazu brauchen Führungskräfte deutlich mehr Mut als bei top-down Veränderungen.
Am Anfang steht die Einsicht, dass in der instabilen und komplexen Welt von heute kein noch so erfahrener Führungskreis alle Antworten hat. Wie wäre es, stattdessen einen Raum zu schaffen, in dem jeder Mitarbeiter die Beiträge zur Veränderung leistet, die er mit seiner Expertise und seinen Ambitionen leisten kann und will?
Unternehmen in ständiger Veränderung sind eher erfolgreich, wenn Führungskräfte den Mut zur kooperativen Führung oder unterstützenden Führung entwickeln. Wenn sie Verantwortung an Menschen übertragen, die hoch qualifiziert sind. Die einen Beitrag mit Sinn zum großen Ganzen leisten wollen. Für viele Menschen ist das ein besonderer Beweis von Wertschätzung. Neurobiologe Gerald Hüther skizziert HIER, wie Supportive Leadership funktioniert.
5. Selbstwertschätzung
Als Coach mache ich immer wieder die Erfahrung, dass auch Wertschätzung sich selbst gegenüber wesentlich ist. Wer sich selbst gelassen akzeptiert mit seinen Stärken und Schwächen, Werten, Motiven, auch mit seinen Begrenzungen und mancher Unsicherheit, ist im Vorteil. Er ist
- weniger angewiesen auf das positive Urteil anderer
- offener für persönliches Wachstum
- kann auch anderen Menschen leichter Wertschätzung erweisen.
Viele Menschen sind sich selbst gegenüber übermäßig kritisch, ohne es zu merken. Wenn Dir das nächste Mal etwas missglückt, beobachte doch mal Deinen inneren Dialog. Auch ich musste lernen, meinen „inneren Kritiker“ zu zähmen und der „inneren Freundin“ mehr Raum zu geben.
6. Was kannst Du konkret für mehr Wertschätzung tun?
Ich lade Dich zu zwei einfachen Aktivitäten für mehr (Selbst)Wertschätzung ein:
* WONNE-STUNDE
Reserviere in Deinem Terminkalender eine feste Zeit für etwas, das Dir gut tut und nichts mit Deiner Arbeit zu tun hat. Das kann eine Stunde pro Woche sein oder auch mehr. Auch, wenn Du noch so viel zu tun hast. Sauna, ein Hobby, ein Abend mit Freunden, ein Buch, das Du schon immer einmal lesen wolltest, Natur oder auch gar nichts tun. Was immer es ist, nimm dir die Freiheit, Deine Wonne-Stunde genauso ernst zu nehmen wie Deine beruflichen Verpflichtungen. Warum? „Weil Du es Dir wert bist“.
* EXPERIMENT WERTSCHÄTZUNGS-WOCHE
Nimm Dir eine Woche lang täglich 5-10 Minuten zur Reflexion – vielleicht nach der Mittagspause. Überlege dir, wofür Du heute einem Mitarbeiter, Kollegen oder Deinem Chef Wertschätzung schenken möchtest. Was hat sie oder er konkret getan, das Dein Arbeitsleben leichter und erfolgreicher macht oder das Team voranzubringt? Schreibe ein paar anerkennende Worte auf, die möglichst spezifisch sind. Dann geh auf den anderen zu und sage sie.
Wenn Du das nicht gewöhnt bist, mag es am Anfang etwas holprig klingen. Es wird dennoch gut ankommen und mit der Zeit wirst Du spontaner. Diese Aktivität ist ein Experiment: Beobachte, was Deine Wertschätzung mit den Menschen macht, denen Du sie schenkst. Und mit Dir selbst. Vielleicht hast Du ja am Ende der Woche Lust, weiterzumachen?
Fazit
Wenn Du eine erfahrene Führungs- oder Fachkraft bist, kennst Du das – die Wellen des Wandels schlagen immer höher. Was wäre, wenn Veränderungsprojekte nicht nur auf mehr Gewinn abzielten? Sondern auch auf mehr Wertschätzung, mehr Menschlichkeit im Unternehmen? Wie würde dann das Arbeitsklima aussehen? Wie würde sich der Montagmorgen für Dich anfühlen?
Ich lade Dich ein, Deine Gedanken und Erfahrungen in einem Kommentar zu teilen.
Liebe Christine, das ist ein guter Artikel und ich bin fest überzeugt, dass Wertschätzung absolut wichtig für das Gedeihen von Menschen ist, im privaten wie im beruflichen Umfeld. Ich verfolge immer die Erkenntnisse dazu, was ein gutes langes Leben ermöglicht und soweit ich weiss, steht da Wertschätzung durch das Umfeld noch vor anderen Faktoren wie einer gesunden Lebensweise. Du hast natürlich auch recht, dass das die Wertschätzung bei der Selbstwertschätzung anfängt. Und da glaube ich heute, dass man es sich selbst schuldig ist, auf Abstand zu gehen, im beruflichen oder privaten Umfeld, wenn man sich nicht wertgeschätzt fühlt. Man kann andere Menschen meist nicht ändern. Aber eine berufliche Situation mit mangelnder Wertschätzung ist einfach ungesund und die sollte man auflösen, und wenn es nicht anders geht, dann eben dadurch, dass man selbst nach einer besseren Alternative sucht. Für Führungskräfte denke ich, gilt etwas ähnliches: Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter nicht schätzen, sollten sich im klaren sein, dass sie ihren Mitarbeitern dadurch schaden und keinen Nährboden für deren Entfaltung schaffen. Ich denke auch sie sollten versuchen diese Situationen zu ändern, auf welchem Weg auch immer: Manchmal stimmt die Chemie einfach nicht, aber in anderen Situationen werden Menschen zu Führungskräften, die eigentlich nur sich selbst trauen und ein Problem damit haben kompetente Mitarbeiter zu fördern. In meinen Augen, sollte für eine gute Führungskraft, die Förderung der Mitarbeiter an ganz vorderer Stelle stehen. Denn es ist deren gute Arbeit, die das Team insgesamt voranbringt.
Ich habe in meinen Jahren in der freien Wirtschaft beide Arten von Führungskräften kennengelernt: solche, die fördern und solche, die es nicht tun. Ich denke Führungskräfte, die nicht fördern, haben oft nicht gelernt loszulassen. Sie wollen die Kontrolle über alles behalten und degradieren ihre Mitarbeitern zu Handlangern. Gute Führungskräfte hingegen, versuchen sich mit Mitarbeitern zu umgeben, denen sie trauen und denen sie grosse tolle Aufgaben übergeben. Sie selbst sich vor allem als Fallback, falls die Mitarbeiter mit ihrer Aufgabe in Schwierigkeiten laufen, haben sie den Überblick und wissen was zu tun ist. Ich hatte mal solch einen Boss und es war phantastisch. Aber ich habe ihn eher als die Ausnahme, denn als die Regel erlebt.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei der Auswahl von Führungskräften die falschen Kriterien angesetzt werden. Die Frage ob jemand zur Führungskraft geeignet ist, sollte sich nicht darauf beschränken, ob er selbst gute Arbeit leistet, sondern sich danach richten, ob er auch das Zeug dafür, hat in der zweiten Reihe zu stehen und andere zu fördern, die in Details vielleicht kompetenter als er selbst sind. Hat er das Zeug ihnen Raum zum Wachsen zu geben?
Jedenfalls Danke für diesen interessanten Artikel, der mich zum Nachdenken angeregt hat.
Liebe Sabine,
vielen Dank für Deinen ausführlichen und nachdenklichen Kommentar. Ja, Wertschätzung – beruflich wie privat – ist ein ganz wesentlicher Faktor für ein langes und gelingendes Leben.
Du hast also auch in der freien Wirtschaft einmal die Freude erlebt, mit und für einen wertschätzenden Chef zu arbeiten. Der Mitarbeitern anspruchsvolle Aufgaben anvertraut und dabei ein Stück der Kontrolle abgibt. Wie könnten die Unternehmen und unsere Gesellschaft aussehen, wenn es mehr solcher Vorgesetzten gäbe. Ich stimme Dir zu, dass Führungskräfte stärker danach ausgesucht werden sollten, in wieweit sie fähig sind, anderen Raum zum Wachsen zu geben. Ich freue mich, dass Dich der Artikel zum Nachdenken angeregt hat.
Herzliche Grüße
Christine