Das Shirt klebt am Körper, der Ventilator quirlt heiße Luft und das Wasser im Glas verdunstet kurz nach dem Einschenken. Obwohl mich die tropischen Tage und Nächte in Europa stöhnen lassen, liebe ich sie. Warum? Die Hundstage liefern ein gemeinsames Thema, bei dem ausnahmsweise fast alle einer Meinung sind. Und auch wenn nicht, lässt sich trefflich darüber diskutieren, ohne dass wir einander in die Haare geraten.
Wie entspannt wäre es, wenn wir uns auch über kontroverse Themen so verständnisvoll austauschen könnten? Und was hält uns eigentlich davon ab?
Wenn deine Meinung auf meine Meinung trifft
Wir haben zu allem und jedem eine Meinung. Das Wort verrät es schon: „MEINen“ stützt sich im Unterschied zu „Wissen“ nur teilweise oder auch gar nicht auf Fakten.
Vielfach kommen Meinungen mit einem deutlichen Bauchgefühl daher. Im Extremfall gleichen sie binären Urteilen: ja oder nein, schwarz oder weiß, gut oder schlecht. Wie Ampeln geben sie uns Signale, ob wir uns einem Menschen, einer Situation nähern wollen oder nicht. So helfen sie dabei, uns in der Welt zurechtzufinden.
Das geht allen so. Doch weil jeder von uns seit früher Kindheit unterschiedliche Dinge erlebt hat, unterscheiden sich auch unsere Meinungen.
Ist die Künstliche Intelligenz gut oder schlecht für die Menschen?
Sollten Schulen verbieten, dass Handys im Unterricht angeschaltet sind?
Ist unser Chef unfähig und gehört abgelöst?
Sollte das Rentenalter weiter angehoben werden?
Sollte ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden?
Sind Meinungen richtig oder falsch? Das glaube ich nicht. Jede Meinung ist begrenzt, es gibt nur mehr oder weniger hilfreiche. Doch ich gebe zu - manchmal vergesse ich, dass die Sicht des anderen genauso berechtigt ist wie meine eigene.
Gerade wenn Bedürfnisse oder Werte betroffen sind, die Menschen unterschiedlich wichtig sind, fliegen schnell die Fetzen. Sicherheit. Gerechtigkeit. Freiheit. Macht. Empathie. Frieden. Leistung. Naturverbundenheit. Weisheit. Kooperation … Welcher Wert spricht dich spontan besonders an?
Starre Meinungen galoppieren auf zwei Pferdefüßen
Unsere Meinungen tendieren zur Selbstverstärkung. Wir sehen und hören nur das, was zu ihnen passt.
Je öfter wir unsere Meinung ausgesprochen oder auch nur gedacht haben – sei es auch nur in einem sarkastischen Kommentar auf eine Nachricht in der Abendschau oder auf Twitter, desto stärker verdrahten sich die entsprechenden neuronalen Netze.
Was ist fatal daran? Tief gespurte Meinungen galoppieren auf zwei Pferdefüßen.
Je mehr wir von unserer „Wahrheit“ überzeugt sind, desto inflexibler, starrer werden wir.
Andersherum: Andere Ansichten für legitim zu halten, erweitert unseren begrenzten Horizont. Wozu das gut ist? Zum einen sprießen dann neue Synapsen zwischen unseren Neuronen. Dann werden wir schlauer – in jedem Alter. Vielleicht entdecken wir gemeinsam sogar etwas differenziertere Meinungen, mit denen wir besser durch die Welt navigieren?
Mit festgefahrenen Meinungen untergraben wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen.
Denn was geschieht, wenn unser Gegenüber eine abweichende Meinung äußert?
Ich mag Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation und verwende sie immer wieder. Dennoch springt manchmal eine Schublade in mir auf, aus der wie ein Kobold ein starker Reflex hüpft. Die Lust, den anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen. "Ja, aber ...". Und dann? Wer reagiert nicht allergisch darauf, belehrt zu werden?

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Sprich mit mir: Die Magie des Zuhörens
Doch manchmal schaffen wir es, locker zu bleiben. Wenn wir gut drauf sind. Wenn der andere uns nah und sympathisch ist: Partner, Freundin, geschätzter Kollege. Dann hören wir neugierig zu – ohne in Gedanken bereits an unserer Erwiderung zu feilen. Wir fragen, was unserem Gesprächspartner am Thema so wichtig ist und wie es ihm damit geht. Dann lassen wir ihn in unsere Gedanken- und Gefühlswelt schauen.
Bei wem und wann gelingt dir das?
Solch ein offenes Gespräch strengt an, aber belohnt beide. Wenn es gut geht, nimmt jeder ein paar anregende Gedanken mit, die er noch nie gedacht hat.
Und nein, wir müssen nicht unbedingt zur gleichen Sicht der Dinge kommen. Die Briten sagen entspannt:
Let‘s agree to disagree.Lass uns übereinkommen, unterschiedlicher Meinung zu sein.
Doch sind wir auch fähig, einem Fremden interessiert und offen gegenüberzutreten? Zumal, wenn er viele unserer Meinungen nicht teilt?
Nur selten kommen wir in diese Lage, weil wir uns gern mit Menschen ähnlicher Weltsicht umgeben. In der realen Welt ebenso wie in den Social Media.
Sprich mit mir, ich höre dir zu: Ein Experiment
Hast du Lust, das für dich herauszufinden? Zeit Online und Partner haben im Juli ein Experiment gestartet, das wie eine Dating-Plattform anmutet: #deutschlandspricht.
Bei der Online-Anmeldung beantwortest du fünf Ja-Nein-Fragen im Stil von
"Sollte Deutschland seine Grenzen strikter kontrollieren?" Anschließend schreibst du noch kurz auf, was du magst, gar nicht magst, nach Feierabend machst usw.
Im Unterschied zu einer Dating-Plattform schlägt dir #deutschlandspricht einen Gesprächspartner in deiner Nähe vor, der möglichst anders tickt als du. Und am 23. September treffen sich überall im Land zwei Fremde auf einen Spaziergang, einen Kaffee, ein Bier. Zwei Menschen hören einander zu, die auf den ersten Blick nur eins vereint: Die Neugier auf die Sicht des anderen.
Ich bin gespannt, wen ich an diesem Tag kennenlerne. Welche interessanten Sichtweisen ich erfahre und wie sich die Begegnung für uns beide anfühlen wird.
Und wer weiß, vielleicht entdecken ja Tausende von Gesprächspartnern dabei sogar ganz neue Puzzleteile. Lösungsideen für Probleme, die keiner von uns allein lösen kann.
Liebe Leserin, lieber Leser - ganz gleich, ob du in Deutschland, der Schweiz, Österreich oder anderswo wohnst - hast du dich schon einmal auf ein ähnliches Experiment eingelassen? Was müsste geschehen, damit du es probierst?
Lass es dir gut gehen!
Christine