Am 21. September ist der Internationale Tag des Friedens. Die UNO mahnt alle Konfliktparteien, zumindest an diesem Tag im Jahr die Waffen ruhen zu lassen und Gewaltlosigkeit zu achten. Damit Menschen auf der ganzen Welt aufatmen können. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin.
Am 21. September 2022 ordnet der russische Diktator die Teilmobilmachung an, weil er seinen Krieg gegen die Ukraine doch noch gewinnen will.
Denn Diktatoren scheren sich nicht um das Glück der Menschen.
Im Ferienhaus in den polnischen Bieszczaden
Am Abend desselben Tages warten Michael und ich in unserem Ferienhäuschen in den Bieszczaden auf Pan Józef. Nach einer langen Wanderung durch regennassen Bergwald knurrt uns der Magen. Wir sind wohlig müde.
Auf dem groben Holztisch leuchtet ein Teelicht. Während Michael das flackernde Kaminfeuer mit dicken Buchenscheiten füttert, rühre ich noch einmal im dampfenden Topf mit „Zupa ogórkowa“, der leckeren polnischen Saure-Gurken-Suppe.
Es klopft, unser Gast tritt ein. Statt Blumen drückt er mir eine in Papier gewickelte derbe Bauernwurst in die Hand, noch warm und verlockend duftend. Gerade hat er sie aus dem Räucherofen gezogen, der auf der Wiese am Bach sachte vor sich hinschmurgelt.
Pan Józef, ein drahtiger Mann um die sechzig, mit sonnengebräuntem Gesicht, betreibt "unseren" Agrotourismus-Bauernhof.
Ihm gehören sechs nebelgrau gelockte Schafe mit schwarzen Gesichtern und Beinen, zehn Gänse, vier Kühe sowie ein paar kupferbraune und schwarze Hühner, die in aufrechter Haltung über den Rasen stolzieren, außerdem den Hang hinauf etwas Acker und Weide.
Für Feriengäste, die gern auf einsamen Pfaden im Gebirge wandern, hat Pan Józef mit eigenen Händen zwei Häuschen gebaut. Eines davon haben wir für zwei Wochen gemietet, das zweite steht leer. Wenn wir aus dem Fenster auf die grünen Höhen schauen, packt uns jedesmal die Lust, die Bergwelt zu entdecken. Bisher ist die Zeit wie im Fluge vergangen.

Alte Obstbäume erzählen
Mehrere Tage lang begegnet uns auf unseren Wanderungen kein Mensch. Denn die Bieszczaden – ein sanftes Mittelgebirge im äußersten südöstlichen Zipfel Polens - sind dünn besiedelt, und außerhalb der Saison auch nur von wenigen Touristen besucht.
Dafür streifen Rothirsche, Wisente, Wolfsrudel und sogar Bären durch üppig grüne Wälder, in denen sich jahrhundertealte Buchen und Eiben nach oben recken. Zum Glück treffen wir keines der Raubtiere. Wir begnügen uns gern mit frischen Trittspuren von Wolf und Bär auf dem aufgeweichten Pfad.
Uralte Obstbäume und zerfallende Fundamente zeugen von verlassenen Siedlungen polnischer und ukrainischer Bergbauernfamilien, die im Zweiten Weltkrieg und seinen Nachwehen ermordet oder gegen ihren Willen ausgesiedelt wurden.
Heute entdeckten wir an einem sanften Berghang einen riesigen Pflaumenbaum, den schon lange niemand mehr beschnitten hat. Daneben eine eingefasste Quelle und eine steinerne Türschwelle.
Ein paar wilde Bienen schwirrten um späte Flockenblumen, Vögel zwitscherten leise. Während wir an die Menschen dachten, die einst hier lebten, aßen wir ein paar saftige Pflaumen. Es war so friedlich an diesem verlassenen Ort.
Frieden... Gibt es Wichtigeres?
Józef
Doch mit Pan Józef reden wir heute Abend nicht über Krieg und Frieden. Weder über die blutgetränkte Erde der Bieszczaden, noch über den Krieg in der Ukraine, deren Grenze nur wenige Kilometer entfernt ist.
Stattdessen fragen wir Pan Józef nach seinem Leben. Nach den Tieren, der alltäglichen Arbeit, nach seiner Kindheit.
Während er erzählt, wie er als Knirps auch bei Regen und Schneesturm drei Kilometer bis zum Schulbus stapfte, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Natürlich packte der kleine Józef wie alle Bauernkinder in der Wirtschaft der Eltern an. Hütete Ziegen, sammelte Pilze, hackte Holz. Das war manchmal schwer, aber ganz normal damals.
Und heute? Ist das Leben jetzt leichter? Besser?
Heute, wo er neben einem stattlichen Haus und dem Auto seinen Agrotourismus-Betrieb, Landmaschinen, einen E-Scouter und einen Laptop mit W-LAN besitzt?
Pan Józef wiegt den Kopf und zögert mit der Antwort.
Bożena
Nachdem er tief Luft geholt hat, erzählt er von Bożena. Seine Frau, mit der er sich noch vor einem halben Jahr die Arbeit teilte. Sie versorgte das Haus, die Kleintiere und die beiden Ferienhütten. Er kümmerte sich um die Kühe, das Feld, schlug Brennholz und machte Heu.
Für Józefs betagten Vater, der auf die Hundert zugeht und noch immer in seinem traditionellen Holzhaus neben den Ferienhütten wohnt, sorgten beide.
Manchmal sammelten sie gemeinsam Pilze, Bärlauch, Brombeeren und Himbeeren, die Bożena in kleinen Gläschen haltbar machte. Diese gemeinsamen Momente in den Bergen waren für beide etwas ganz Besonderes.
Als wir im Februar unseren Urlaub in den Bieszczady buchten, haben wir Pani Bożenas Foto auf dem Internet-Portal gesehen. Eine Frau Mitte Fünfzig mit Lachfältchen, die zupackend und sympathisch wirkte.
Kurz danach muss der Unfall passiert sein. An einem Frühlingstag wurde Pani Bożena von einem umstürzenden, mit 1000 Litern Wasser gefüllten Container erschlagen. Erst in der Abenddämmerung, als er von der Feldarbeit zurückkehrte, fand Pan Józef seine Frau leblos in der Scheune.
Wir haben uns geliebt, sagt er. Zu zweit war die Arbeit keine Last. Und dass er schrecklich müde ist. Jetzt, wo er alles ganz allein stemmen muss und niemanden mehr zum Reden hat.
Und die vier Kinder? Ja – die Tochter, die mit ihrem Mann im Nachbardorf wohnt, schaut manchmal vorbei.
Doch die zweite Tochter und ein Sohn leben schon seit Jahren in Deutschland. Dort wächst die kleine Enkelin zweisprachig auf, damit sie mit Opa reden kann. Auch wenn die jungen Familien vielleicht eines Tages nach Polen zurückkehren – sie haben ihr eigenes Leben.
Bleibt Kacper, der Jüngste, Anfang zwanzig und Pan Józefs Lichtblick. Gerade hilft der junge Mann wie jedes Jahr im Schwäbischen bei der Weinernte aus. Doch irgendwann will er zurückkommen, weil er die heimischen Bergwälder, den Hof, die Tiere mag. Und dem Vater gern unter die Arme greift.
Und so wird Pan Józef wohl noch ein paar Jahre durchhalten, bis Kacper die Wirtschaft übernimmt.
Was wir wirklich brauchen
Jetzt verstehen wir: Es ist nicht die schwere Arbeit, die tagaus, tagein mit dem ersten Hahnenschrei beginnt und erst spätabends getan ist, die Kummerfalten in Pan Józefs Gesicht schneidet. Es sind die einsamen Tage und vor allem die Nächte, in denen in seinem Kopf immer wieder derselbe Film abläuft.
Als wir zwei Tage später wieder auf dem Heimweg nach Berlin sind, kommen uns auf der Autobahn in Zentralpolen mehrere Truppentransporte entgegen. Große Mannschaftslaster, Panzer auf Tiefladern. Als wir die Militärtechnik in Tarnfarben sehen, läuft es uns kalt den Rücken herunter.
Und wir denken daran, wie oft wir doch das für selbstverständlich nehmen, worauf jedes Glück gründet:
Frieden.
Gesundheit für Mensch und Umwelt.
Menschen, denen wir vertrauen und die uns lieben.
Wir wünschen von Herzen, dass dir und uns all das erhalten bleibt.
Denn für alles andere können wir doch selbst sorgen.
Herzlichst
Christine und Michael
Liebe Christine
So schön von dir zu lesen😊
Und so wahr, was du schreibst! 🙏 Danke.
Liebe Grüsse aus Zürich
Beatrice 🍀