Kennst du das? Manchmal arbeitest du an etwas Wichtigem, doch du hast keine Lust. Mühelos fallen dir ein Dutzend andere Sachen ein, die du erledigen könntest. Darunter entdeckst du auch solche, die schnell von der Hand gehen und Spaß machen. Mit Mühe lenkst du deine Gedanken wieder auf die anstehende Aufgabe zurück, doch schon vibriert dein Smartphone. Du überfliegst die neue WhatsApp Nachricht.
Danach fällt dir ein, dass du noch diesen einen Artikel lesen willst. Oder dringend deine E-Mails checken... Und so kommt es, dass deine wichtige Aufgabe deutlich länger braucht als es sein müsste. Im schlimmsten Fall verschiebst du sie - bevorzugt auf morgen. Oder gleich auf übermorgen oder auf nächste Woche? Du bist nicht allein, ich kenne das auch.
Wenn dir das oft passiert und dich frustriert, ist das mehr als alltägliches Trödeln bei unangenehmen Aufgaben, sondern Prokrastination (extremes Aufschieben). Die gab es schon immer, doch heute hat sie sich zu einer Epidemie ausgewachsen. Wie kommt das?
Im November letzten Jahres habe ich während einer Lateinamerikareise ein paar Dinge zum allerersten Mal gemacht. Mir z.B. eine vierwöchige Social Media Auszeit gegönnt - kein Twitter, kein Xing, kein Facebook... Und zum ersten Mal eine Kuh gemolken. Wie es mir bei Josefina und ihrer Kuh ging und was das mit Prokrastination im Digitalzeitalter zu tun hat, liest du am Ende des Beitrages.

Doch zunächst: Wann und warum verzögern wir Aufgaben?
Wenn kreative Ideen fehlen
Manchmal gibt uns unsere Unlust ein wichtiges Signal: Was wir jetzt brauchen, ist nicht Durchbeißen, sondern kreative Ideen. Was nun? Bemühen wir uns krampfhaft um Konzentration, fahren wir uns nur noch mehr fest. Denn Kreativität gedeiht nur, wenn wir uns mit unserer Intuition verbinden und vom fokussierten Denken in das divergente Denken umschalten. Was das ist und wie das gelingen kann, liest du in unserem Blogartikel Wenn du trotz Fokussierung nicht weiterkommst.
Die Aufgabe erscheint zu groß
Manchmal erscheint uns ein Vorhaben wie ein Elefant - kolossal und nicht zu bezwingen. Dann weichen wir auf Dinge aus, die nicht so wichtig, aber einfacher sind und uns aber mit einer unmittelbaren Belohnung befriedigen.
Zwar sind die meisten von uns aus dem Berufsleben mit Projektmanagement und Planung vertraut. Als erstes zerlegen wir ein Projekt in kleine Aktivitäten mit konkreten Resultaten. Doch für unsere wichtigsten persönlichen Vorhaben wenden wir das nicht immer an.
Warum ist die Salamitaktik so nützlich? Anstatt den Elefanten oder den Berg vor uns zu sehen, konzentrieren wir uns jeden Tag nur auf die nächste kleine Etappe. Sind wir dort angekommen, freuen wir uns über den Erfolg. Der alte Witz bringt es auf den Punkt:
"Wie isst man einen Elefanten?" "Häppchenweise."
Wir nehmen uns zu viel Zeit - für Unwesentliches
Es klingt paradox, aber oft nehmen wir uns zu viel Zeit. Für aufwändige "Goldkanten" wie auch für nebensächliche Aufgaben.
Was können wir stattdessen tun?
Wie das Digitalzeitalter Fremdbestimmung und Prokrastination fördert: Informationsflut, Ablenkung, Erschöpfung
Rasante Veränderungen, digitale Informationsflut und die Erwartung, ständig leistungsfähig und erreichbar zu sein, überfordern uns schnell. Erschöpfung droht, ohne dass wir sie rechtzeitig bemerken. Unser Gehirn ist wenig für die Moderne geeignet. Schließlich stammt unsere mentale Grundausstattung aus einer Zeit, in der Homo Sapiens in einer stabileren Umgebung mit deutlich weniger Reizen lebte.
Wenn wir wichtige Aufgaben verschieben, mildern wir diese Überforderung zeitweise. Prokrastination als Taktik gegen die Schattenseiten des Digitalzeitalters?
Wie unsere Urahnen, die in der Savanne Wurzeln suchten und Tiere jagten, sind wir biologische und soziale Wesen. Doch seit der Aufklärung wird in unserem Kulturkreis Leistung und Verstand des Einzelkämpfers überbewertet - eine Tendenz, die im Digitalzeitalter noch zunimmt.
Und so finden viele Menschen kaum Zugang zum Körper, zu Emotionen, zu anderen Menschen. Doch nur mit Intuition und Verbundenheit finden wir heraus, was wirklich wichtig für uns ist, was uns mit Sinn erfüllt. Andernfalls werden wir dünnhäutig für digitale Verlockungen.
Zwar sind Informationstechnologien und Internet auf der einen Seite ein Segen für uns. Mit einem Fingertipp erfahren wir den Wetterbericht der nächsten zwei Wochen, stöbern in einem freien Online-Lexikon, lesen Hintergrund-Informationen. Wir vernetzen uns mit Gleichgesinnten, arbeiten im Home Office, entdecken Online-Kurse. Algorithmen und Roboter könnten uns in Zukunft weitere Routinearbeit abnehmen und mehr Zeit für das lassen, was uns menschlich macht. Das wäre großartig. Wenn ... - doch das ist ein anderes Thema.
Auf der anderen Seite werden wir auf zahlreichen Kanälen mit Informations-Müll, Hassbotschaften oder Marketing-Nachrichten überschüttet, die wir nicht brauchen, die uns nicht zum Lächeln bringen, sondern uns runterziehen. Wir vertrödeln unsere Lebenszeit in erfundenen Realitäten bei Netflix. Noch nie war es so leicht, sich ablenken zu lassen.
Das ist Fremdbestimmung pur. Fast ohne es zu merken, lassen wir uns immer wieder von Zielen anderer bestimmen.
Von den Geschäftsinteressen der Firma, die uns einen neuen Laptop verkaufen will, obwohl der "alte" erst zwei Jahre und noch gut genug ist. Oder die uns nahelegt, zum Glücklichsein fehle uns noch dieses eine wahnsinnig innovative Produkt, nach dem wir noch nie Verlangen verspürt haben. Wie das quietschgelbe Zweit-Handy in Form einer Banane. Ein Witz? Nein.
Für Selbstbestimmung brauchen wir nicht nur unsere Vernunft, sondern vor allem Verbundenheit - mit unserem Körper, unseren Emotionen und mit anderen Menschen.
Josefinas Kuh
Zu viert halfen wir einen Tag lang einer peruanischen Bäuerin bei der Arbeit - ein Ehepaar aus Kalifornien, Michael und ich.
Zuerst fütterten wir die Bullen in der Steinumzäunung, dann schaufelten wir Maiskörner in große farbenfrohe Baumwollplanen, die zu Rucksäcken gebunden wurden. Josefina, die Bäuerin aus dem peruanischen Hochland, zeigte uns, wie man die Last trägt. Schwer bepackt ging es hinaus auf die Weide, wo wir ihr beim Melken zusahen. "Wollt ihr auch?", fragte sie.
Ich erinnere mich noch genau, dass ich leichte Panik spürte - würde das Tier mich treten, würde ich ihm Schmerzen zufügen? Vorsichtig strich ich der Kuh über die sonnenwarme Flanke. Sie drehte den Kopf, ihre feuchten dunklen Augen sahen mich gleichmütig an. Dann fasste ich mir ein Herz, hockte mich hin und packte zu. Ich atmete tief und gleichmäßig, mit meinen Gedanken ganz bei der Kuh und der Bewegung meiner Hände. Ich weiß nicht, wie viele Minuten verstrichen, doch irgendwann hatte ich einen halben Liter Milch gemolken. Als ich aufblickte, blickte ich in die lachenden Gesichter von Michael und Josefina.
Mit schmerzendem Rücken und tauben Fingern erhob ich mich. Ich fühlte mich wie ein Honigkuchenpferd. Vielleicht kommt dir das seltsam vor, aber ich hatte gerade etwas Wunderbares erlebt. Einen tiefen Moment der Verbundenheit - mit einem Tier und mit mir selbst. Die Zeit stand immer noch still. Ich dehnte den Rücken und fühlte die Sonne auf der Haut. Spürte den Wind, der die Grashalme bog und die Wölkchen zerfranste...
Ob wohl Josefina jeden Tag ein ähnliches Hochgefühl spürt? Eher nicht, weil das Melken Alltag für sie ist. Harte Arbeit und gleichzeitig ein Ritual, das ihr Leben strukturiert und ihm Sinn gibt.
Das Foto von Josefina und ihrer Kuh erinnert mich auch heute noch daran, worauf es ankommt: auf Verbundenheit. Verbinde dich mit dir selbst, anderen Menschen und der Natur. Dann bist du weniger manipulierbar, sondern entscheidest selbstbestimmt, was dir wichtig ist.
Verbinde dich mit deinem wahren Ich, anderen Menschen und deiner Umwelt. Erlebe, was dann passiert. (Otto Scharmer @u.lab)
Zurück in Berlin hatte ich meinen Fokus und Elan wiederentdeckt. Auch neue kreative Ideen für mein Buch sprangen mich plötzlich an. Ist das ein vorübergehendes Hoch? Vielleicht. Doch wenn ich den Fokus mal wieder verliere und mich verzettele, weiß ich, wie ich damit umgehen kann. Digitale Auszeit, Yoga, ein Spaziergang zum See mit Michael, ein Tag mit Freunden und so vieles mehr helfen mir, zum Wesentlichen zurückzufinden.
Liebe Leserin, lieber Leser, wie gehst du mit der Reizüberflutung um? Wie schaffst du es, deine Aufmerksamkeit und Energie auf deine Herzensthemen zu lenken?
Lass es dir gut gehen!
Christine