Probleme über Probleme
An einem Sonntagmorgen im Oktober peitscht der Wind Birkenblätter über den Asphalt. Der Himmel passt zu meiner Stimmung – grau. Ein wichtiger Coaching-Auftrag ist trotz verheißungsvollen Vorgesprächs geplatzt. Außerdem habe ich die letzten Tage zu viele Nachrichten gesehen: In der Ostukraine sterben Zivilisten im Gefecht von Separatisten und regulärer Armee. Überladene Boote mit Flüchtlingen kentern im Mittelmeer. „Wutbürger“ randalieren vor deutschen Flüchtlingsheimen. In Brüssel übertönen nationale Egoismen der EU-Staaten Solidarität und Fairness. Wo lebt der Traum von Europa als Wertegemeinschaft? Sinn finden – das fällt mir heute schwer. Doch dann…
Meine Nichte schreibt per Email, dass ihr Chor heute in Berlin auftritt. Revoice ist ein ganz besonderer Chor. 40 junge Sänger aus 21 Ländern treffen sich drei Mal im Jahr, jedesmal in einer anderen Stadt Europas. Zwei Tage proben sie, dann geben sie ein Konzert. Im Alltag arbeiten die meisten Sänger als Lehrer, Ingenieure, Bankangestellte. Einen Chorleiter oder Manager haben sie nicht. Fünf junge Profi-Musiker übernehmen abwechselnd die Führung. Ich frage mich, wie das geht. Wie bekommt man 40 Individualisten aus allen Ecken Europas unter einen Hut? Und – vielleicht hellt das Konzert ja meine trübe Stimmung auf.
Gemeinsam Sinn finden: Werde Teil von etwas, das größer ist als Du
Michael und ich werfen uns in Schale und fahren in die City. Die Parochialkirche, ein schlichter hoher Kuppelbau, weckt meine Vorfreude. Und schon geht es los. Junge Frauen und Männer in Schwarz stellen sich im Kreis entlang der runden Wände auf – ungewöhnlich. Bunte Tücher und Kravatten beleben ihre dunkle, doch individuelle Kleidung. Bereits nach den ersten Tönen spüre ich, wie mir ein Prickeln den Rücken hinunterläuft.
Lieder und Choräle aus allen Ecken Europas erfüllen die Kuppel. Die meisten kenne ich nicht, dennoch klingen sie vertraut. Eben noch war ich in sorgenvolle Gedanken vertieft, ohne es recht zu merken. Jetzt zieht mich die Musik mehr und mehr in ihren Bann. Ab und zu greift ein Sänger zur Violine. Ein Paar improvisiert einen Tanz. Die wechselnden Dirigenten und die Sänger verstehen sich ohne Worte. So sehen Flow und kooperative Führung aus. Ich kann kaum glauben, dass der Chor nur zwei Tage geprobt hat.
Zum Abschluss tritt eine junge Frau vor und füllt mit ihrer klaren Stimme die Kuppel. Der Chor nimmt die Melodie mehrstimmig auf. „Solistvals“ – wunderschön. Lucia Beresova hat einen Mitschnitt auf ihren youTube-Kanal gestellt (4:15 min):
Ich bin berührt und begeistert. Den anderen Zuhörern scheint es auch so zu gehen – der Beifall nimmt kein Ende.
Sinn-voll leben, Lösungen finden
Als wir aus der Kirche treten, ist der Tag immer noch grau. Ein heftiger Wind fegt über den leeren Platz. Doch nun fühle ich mich dankbar, inspiriert und voller Energie. Revoice hat mich daran erinnert, wieviel eine starke Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten vermag. Ja, für die riesigen Probleme unserer Zeit wird es Lösungen geben. Revoice zeigt, wie es gehen kann. Jenseits von Zwiespalt und nationalen Egoismen finden diese jungen Europäer Sinn und Freude darin, gemeinsam zu singen. Lieder vor dem Vergessen zu bewahren. Brücken der Freundschaft zu bauen. „We have united to bring joy to your ears“ heißt ihre Mission. Vielleicht ertönen die klaren Stimmen von Revoice International Vocal Ensemble irgendwann auch in Deiner Nähe. Dann lass Dir dieses inspirierende Erlebnis nicht entgehen.
Wie sieht es bei Dir aus? Gibt es auch in Deinem Leben eine kleine oder große starke Gemeinschaft, die Dir hilft, Sinn im Leben zu finden?
Dir hat der Beitrag gefallen? Dann teile ihn doch bitte mit Deinem Netzwerk.
Vielen Dank für Deinen nachdenklichen Kommentar, Hotti. Du hast Recht – Orientierung und Sinn zu finden ist gerade heute unglaublich wichtig. Wie schön, dass Du den Anfang zu Deinem „roten Faden“ gefunden hast!
Nach Gerhard Gundermann habe ich gegoogelt und mir ein youTube-Video aus dem Tränenpalast angesehen. Ich kann mir vorstellen, dass das Konzert des singenden Baggerführers für Dich in der Gemeinschaft der Fans ein bewegendes Erlebnis war.
Das Thema beschäftigt mich ebenfalls.
Es ist außerordentlich wichtig in dieser komplexen, immer unübersichtlicheren Welt mit den vielen bedrohlichen täglichen Nachrichten sowie dem persönlichen, oft starken äußeren Zwängen ausgesetztem, Alltag eine Orientierung für sich selbst zu finden.
Dieser rote Faden sieht sicher bei jedem anders aus. Mancher hat ihn schon lange gefunden. Ich glaube aber viele (junge aber auch reifere Menschen) sind auf der Suche.
Ohne Hilfe ist es nicht einfach, die eingebrannten Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen.
Seit ich den Anfang zu meinen Faden gefunden habe, fällt mir der Umgang mit vielen Dingen, Menschen, Niederlagen und Enttäuschungen wesentlich leichter.
Solche tollen Erlebnisse, wie oben beschrieben, geben mir da Auftrieb. Mir fällt dazu gerade ein Konzert der Seilschaft mit Liedern von Gerhard Gundermann ein. Es ist ein bewegendes Gefühl sich als Teil einer Gemeinschaft zu spüren.
Bin auf den nächsten Blog gespannt.