Jan sieht sich verstohlen um und streicht sein eisblaues Sakko glatt. Im Foyer des 5-Sterne-Hotels an der Hamburger Alster stehen Männer und Frauen in gepflegtem Business-Look in Grüppchen. Sie halten Wassergläser oder Kaffeetassen in der Hand, reden halblaut und warten auf das Event. Die meisten hält er für Mittzwanziger bis Mittvierziger, doch Jan entdeckt auch Menschen, die wie er deutlich in der zweiten Lebenshälfte sind.

Kein Sinn mehr im Job
Was hat ihn hierher getrieben? Jan fühlt sich im Beruf nicht mehr ausgefüllt, obwohl er viel arbeitet. Als Angestellter einer Behörde erledigt er tagein, tagaus dieselben Routinen, inzwischen schon seit fünfzehn Jahren. Obwohl er kein Beamter ist, beneiden ihn viele seiner Freunde um seinen sicheren Arbeitsplatz. Andrerseits fühlt er sich manchmal wie ein Vogel mit gefesselten Flügeln. Er langweilt sich. Da war doch noch was?
Eine von Jans Stärken ist die Analyse - er geht gern den Dingen auf den Grund. Und so hat er in den letzten Wochen die Vorteile und Nachteile seines Jobs gegenübergestellt. Außerdem hat er darüber nachgedacht, was er besonders gut kann. Nun durchforstet er Jobbörsen wie StepStone nach einem Job, der ihn anzieht. Manche Angebote passen auf sein Profil, aber sie fühlen sich nicht gut an.
Im neuen Jahr will er endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Um sich Rückenwind zu holen, hat er dieses Wochenend-Seminar gebucht – für eine beachtliche Summe. „Im neuen Jahr erfolgreich und frei wie ein Adler“ , verspricht der Veranstalter. Jan ist skeptisch, doch ein jüngerer Kollege, mit dem er jeden Mittwoch gemeinsam im Fitness-Club schwitzt, hat voller Begeisterung von dem Event erzählt.
Das Motivationsseminar
Ein Gong ertönt, die Teilnehmer eilen zu ihren Plätzen. Ein hagerer Mann erklimmt mit federnden Schritten das Podium. Mit ausladenden Gesten, emotionalen Sprüchen und kleinen Tricks aus dem Neurolinguistischen Programmieren reißt er die Menschen mit. Lichtkegel richten sich auf den Mann auf der Bühne, schwungvolle Musik durchflutet den Raum. Tenor: Lebe deinen Traum – du musst es nur genügend wollen. Und denke immer positiv! Wie im Flug vergehen die zwei Tage.
Als Jan im ICE nach Hause sitzt, fühlt sich der sonst so rationale Mann immer noch euphorisch. Er glaubt zu wissen, was ihm bisher fehlte: genügend Motivation für die Veränderung, die er anstrebt. Und wie will er sie erreichen? Positives Denken – das soll sein neues Geheimrezept werden.
Ob ihm das wirklich weiterhilft?
Wie Jan setzen viele Menschen – jüngere wie lebenserfahrene – auf das Positive Denken. Dieses Konzept entstand bereits im 19. Jahrhundert, Ende des 20. Jahrhunderts wurde es durch Motivationstrainer wie Dale Carnegie („Sorge dich nicht, lebe“) verbreitet. Auch heute geistert es noch durch zahlreiche Ratgeber-Bücher und Seminare. Das Versprechen: Wer sich nur stark genug mit positiven Vorstellungen oder Sprüchen motiviert, erreicht seine Ziele und lebt erfolgreicher, gesünder und glücklicher.
Positives Denken – der Hype
Ist Positives Denken ein esoterischer Hype? Ja, wie der Psychotherapeut Günter Scheich schon vor Jahren nachgewiesen hat [1]. Positives Denken ist eine Methode, die selten nützt, uns im schlimmsten Fall jedoch stark verunsichern kann. Warum? Bei Misserfolgen oder schweren Krankheiten kann sie schnell bewirken, das wir uns als Versager oder gar schuldig fühlen. Denn schließlich haben wir dann nicht genügend an unsere positiven Selbstsuggestionen geglaubt - eine fatale Idee.
Ja, es stimmt: Wir alle neigen dazu, negative Dinge stärker zu beachten als positive. Warum ist das so?
Auf das Rascheln im Gebüsch (Säbelzahntiger?) reagierten schon unsere fernen Vorfahren sofort. Sie brachten sich mit einem Sprung auf den Baum in Sicherheit, während sie gleichzeitig den verlockenden Duft (Walderdbeeren?) ignorierten. Das half Homo Sapiens über Jahrtausende beim Überleben. Im 21. Jahrhundert ticken wir immer noch so, obwohl wir uns heute damit oft Schwierigkeiten einhandeln. Kein Säbelzahntiger weit und breit? Macht nichts, auch beim vermeintlichen Angriff auf unser Selbstwertgefühl fühlen wir uns bedroht.
Jan hat vor kurzem einen Workshop geleitet. Von zwölf Teilnehmer brachten sich elf ein und gaben ihm anschließend positives Feedback. Einer jedoch fand nur Haare in der Suppe. Woran wird sich Jan wohl eher erinnern – an die Anerkennung der vielen oder die Kritik des einen?
Kennst du Ähnliches in deinem Leben? Sachen, die du gut hingekriegt hast, ohne dass du dich von Herzen darüber freuen konntest? Weil immer noch etwas "nicht gut genug" erschien?
Dann hilft es, die Dinge ausgewogen zu betrachten und vor allem erst mal das Positive anzuerkennen. Klopfen wir uns doch erst mal innerlich auf die Schulter, bevor wir uns an Verbesserungen machen. Das hat jedoch wenig mit Sprüchen zu tun, mit denen wir uns „auf Erfolg programmieren“ oder gar unseren Wunsch „beim Universum in Auftrag geben“.
Positive Psychologie - die Wissenschaft vom gelingenden Leben
Doch halt - gibt es nicht sogar eine Sparte der Psychologie, die mit wissenschaftlichen Methoden die Macht des Positiven erforscht? Was ist der Unterschied zum Positiven Denken?
Positive Psychologie ist eine Sparte der Wissenschaft, die unser Leben bereichern kann. "Positives Denken" gehört dagegen zur Esoterik.
Mit der Positiven Psychologie schufen die amerikanische Psychologe Martin Seligman und Kollegen gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Gegengewicht zur traditionellen – oft defizitorientierten – Psychologie. Statt vor allem psychische Probleme und Störungen zu untersuchen, richtet die Positive Psychologie ihren Blick auf das, was Menschen aufblühen lässt [2].
Zunächst als „Glücksforscher“ belächelt, untersuchen die Wissenschaftler mit empirischen Methoden, welche Faktoren zum „gelingenden Leben“ von Menschen beitragen. Zunächst betrachteten sie vor allem der Einfluss von drei Feldern. Ein viertes Feld - positive Beziehungen - rückte in den letzten Jahren vor allem durch Barbara Fredrickson und Kolleginnen stärker in den Fokus [3].
Wann blühen Menschen auf?
Was uns die Positive Psychologie bringt
Und was haben wir von diesen Forschungen? Eine ganze Menge, denn viele Faktoren für ein glückliches Leben können wir selbst beeinflussen. Drei Beispiele:
Längst hat die Positive Psychologie auch in Europa Fuß gefasst. Beispielsweise lädt die Uni Trier zum berufsbegleitenden Weiterbildungsstudium „Zukunftsmanagement und Positiver Wandel“ ein, die Uni Zürich zum Aufbaustudium Positive Psychologie [4], [5].
Vielleicht willst du einfach nur kurz in die Positive Psychologie reinschnuppern? Dann könntest du dich an einer der Online-Studien der Züricher Psychologen beteiligen [6]. In der Auswertung wirst du mehr erfahren - über deine Persönlichkeit, deine Stärken, deinen Charakter und das, was du für gutes Leben hältst. Gleichzeitig unterstützt du damit die Forschung.
Lass es dir gut gehen!
Herzlichst
Christine
[1] Günter Scheich: Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen
[2] Martin Seligman: Wie wir aufblühen: Die fünf Säulen des persönlichen Wohlbefindens
[3] Barbara Fredrickson: Die Macht der Liebe: Ein neuer Blick auf das größte Gefühl
[4] Universität Trier: Weiterbildungsstudium „Zukunftsmanagement und Positiver Wandel“
[5] Universität Zürich: CAS Positive Psychologie (Certificate of Advanced Studies)
[6] Universität Zürich: Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik: Aktuelle Online-Studien
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Liebe Christine,
wieder mal ein Artikel von Dir, der echt Spaß macht zu lesen. Positives Denken allein bringt uns nicht weiter. Wir müssen uns vor allem auch mit unseren Gefühlen in Kontakt bringen, denn die geben uns die emotionale Energie, die wir brauchen. Gefühl und Verstand in ausgewogener Balance einzusetzen, das ist beileibe nicht so einfach, wie ich selbst auch immer wieder feststellen muss. Da gewinne ich Tag für Tag neue Erkenntnisse. Danke für diese schöne Geschichte.
Martina
Liebe Martina, da bin ich ganz bei dir. Gefühle werden oft noch unterschätzt, obwohl genau sie uns den Antrieb geben, etwas zu tun oder zu lassen. Und ja – die Balance zwischen Ratio und Emotionen ist nicht ein für allemal gewonnen, sondern immer wieder mal eine Herausforderung. Kenne ich gut. Vielen Dank für deinen Kommentar und dafür, dass du unsere Blogartikel verfolgst.
Herzlichst
Christine